Selbstbild und Fremdbild – ich sehe was, was Du nicht siehst!
Ich sehe was, was Du nicht siehst – und das ist… – Ja, was denn eigentlich? Im alten Kinderspiel steckt viel mehr als nur ein Körnchen Wahrheit – denn was andere sehen, sehen wir noch lange nicht. Nehmen wir zwei Beispiele aus dem Berufsalltag:
Nach einem anspruchsvollen Vortrag wispert Ihnen Ihr Kollege zu, dass Sie das toll gemacht haben, und so souverän! Sie sind sehr überrascht, haben Sie doch selber bemerkt, dass Ihre Stimme zwischendrin immer wieder leicht zitterte und wie Sie fortwährend mit Ihrem Kugelschreiber gespielt haben, um Ihre Nervosität loszuwerden.
Sie haben ein wichtiges Vorstellungsgespräch, es läuft aus Ihrer Sicht gar nicht gut, da Ihnen auf einige Fragen keine passenden Antworten einfallen wollen und Sie außerdem vor Aufregung in der Nacht zuvor sehr schlecht geschlafen hatten. Trotzdem erhalten Sie nach acht Tagen, zu Ihrer großen Überraschung, eine Zusage.
Was ist passiert?
Selbst- und Fremdwahrnehmung
Wir haben es hier mit typischen Fällen von differierender Selbst- und Fremdwahrnehmung zu tun. Während ein anderer uns von außen wahrnimmt und das, was er sieht, nach seinem Dafürhalten und durch seine eigene Brille interpretiert, sind wir selber gleichzeitig immer auch mit unserer Innenwelt, unseren Gedanken, Gefühlen, somit auch Zweifeln und Ängsten, wie im obigen Fall, beschäftigt. Es kann natürlich in bestimmten Situationen von Vorteil sein, wenn andere nicht alles von uns wissen. Ebenso ist es allerdings möglich, dass unsere Umwelt positive Dinge, zum Beispiel besondere Qualitäten und Fähigkeiten, an uns wahrnimmt, derer wir selbst uns gar nicht bewusst sind. Feedback von anderen ist daher ein sehr guter Weg, die Perspektive auf sich selbst zu erweitern, indem wir unser Bild durch die Wahrnehmung anderer Menschen ergänzen.
Johari-Fenster
Ein Modell, welches die verschiedenen Aspekte unserer Wahrnehmung sowie auch unser damit zusammenhängendes Entwicklungspotential verdeutlicht, wurde von Joseph Luft und Harry Ingham entwickelt und unter dem Namen Johari-Fenster bekannt:
Dieses Analysemodell verdeutlicht, welche Wahrnehmungsbereiche eine Person hat. Im einzelnen lassen sich dazu einige interessante Aussagen treffen und hilfreiche Schlussfolgerungen ableiten.
Blinder Fleck – was ich in Bezug auf mich nicht weiß, was andere jedoch erkennen
Im Bereich des blinden Flecks befinden sich die Anteile einer Person, die ihr selbst unbewusst, wohl aber ihrer Umgebung bekannt sind. Dazu gehören u.a. Gewohnheiten und sog. Ticks; ein gutes Beispiel hierfür ist die exzessive Verwendung von Füllwörtern wie „eigentlich“, „sozusagen“ etc., die den Sprechenden in der Regel nicht bewusst sind, von anderen aber durchaus – manchmal hinter vorgehaltener Hand geäußert – wahrgenommen werden. Auch besondere, uns selber nicht bewusste, aber von anderen registrierte Fähigkeiten, genauso wie persönliche Vorurteile, nicht bewusste Vorlieben sowie Abneigungen finden sich in diesem Bereich.
Regelmäßiges Feedback kann unseren blinden Fleck verringern und uns helfen, das, was nicht bewusst ist, in den Bereich des bewussten Handelns zu bringen.
Das Unbewusste – weder ich noch andere kennen dies
Der Bereich des Unbewussten beinhaltet verborgene Talente und ungenutzte Begabungen. Er ist weder uns selber noch unserem Umfeld bekannt. Je mehr eine Person sich im Leben ausprobiert, je mehr sie in ihrer Arbeit gefördert und gefordert wird, desto kleiner kann dieser Bereich und umso mehr kann das vorhandene Potential tatsächlich genutzt werden. Erst wenn uns unser Potential bewusst ist, haben wir Zugriff darauf und können es gezielt einsetzen.
Ein gutes Beispiel aus meinem HR-Background wäre hier, durch ein Development oder Assessment Center die Fähigkeiten und Kompetenzen eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin sichtbarer zu machen. So kann sich z.B. herausstellen, dass eine Junior Controllerin das Zeug für eine Referentin Geschäftsentwicklung hat, ein Sachbearbeiter Auftragsabwicklung sich hervorragend im Beschwerdemanagent macht, eine Assistentin Marketing die perfekte Besetzung für die neue Stelle im Veranstaltungsmanagement wäre. Es geht also darum, das herauszufiltern, was uns wirklich ausmacht, so dass wir es gezielt und bewusst in unserem Leben verwenden können.
Das Verborgene – Geheimnisse, die ich für mich behalte
Hier haben wir es mit dem zu tun, was uns selber gut bekannt ist und was wir – aus den verschiedensten individuellen Gründen sowie situativ unterschiedlich – vor anderen gezielt verbergen. Ein Beispiel hierfür aus dem Arbeitsleben kann sein, dass jemand einen Job annimmt, der langfristig angedacht ist, vor dem Vorstellungsgespräch aber bereits die Flugtickets für seine in neun Monaten anstehende Weltreise über sechs Monate gebucht hat. Hier wird, im Gegensatz zum Freundeskreis, die große Reise sicherlich nicht Bestandteil des Gesprächs werden, sondern im Gegenteil eher bewusst verschwiegen.
Aber auch viele persönliche Themen fallen in diesen Bereich, der umso größer ist, je weniger wir von uns selber zeigen. Wir können davon ausgehen, dass je umfangreicher dieses Feld ist, wir umso weniger authentisch im Umgang und im Kontakt mit anderen sein können. Denn anstatt uns zu 100% in die Gesprächssituation einbringen zu können, wird ein Teil unserer Energie dafür benötigt, unser Geheimnis oder auch unsere Geheimnissse für uns zu behalten.
…besonders im Vorstellungsgespräch
In einer Bewerbungssituation kann genau dieser Teil für den Interviewenden von besonderer Bedeutung sein. Denn in einem Auswahlprozess ist der zukünftige Arbeitgeber daran interessiert, herauszufinden, ob der Kandidat oder die Kandidatin wirklich auf die ausgeschriebene Stelle passt und sich nicht nur so präsentiert, wie er oder sie gerne wirken möchte. Gezielte Fragetechniken, der Aufbau von Vertrauen und eine entspannte Gesprächsatmosphäre können in einem gut geführten Intervie allerdings leicht dazu führen, dass uns das ein oder andere „Geheimnis“, ganz entgegen unserer Absichten, am Ende doch über die Lippen geht.
Der Bereich des freien Handelns – Sie als öffentliche Person
Die Ebene des freien Handelns ist sowohl der Person selbst als auch ihrer Umgebung bekannt. Hier zeigen sich öffentliche Anteile eines Menschen. Ein Beispiel hierfür ist, was wir in Social Media über uns selber mitteilen. Aber auch, wenn Sie bspw. einen Marathon gelaufen sind, gehört das in diesen Bereich, da die Ergebnisse veröffentlicht werden. Das, was Sie von sich zeigen, ebenso wie das, was über Sie bekannt wird, fällt hier hinein.
Wir können davon ausgehen, dass wir in diesem Bereich frei und unbelastet sind, weil wir nichts zu verbergen haben und unsere Wünsche, Eigenarten und Verhaltensweisen uns selber bewusst sind. Es handelt sich um das, was wir gerne und freiwillig von uns zeigen.
Nutzen des Modells
Mithilfe der Reflexionen des Johari-Fensters können wir unseren persönlichen Handlungsspielraum transparenter und freier gestalten. Indem wir zu uns und zu dem, was uns ausmacht, stehen, verwenden wir weniger Zeit auf „Geheimhaltung“ und gewinnen dementsprechend mehr Energie für das, was uns wirklich wichtig ist. Wir haben also weniger Ablenkung vom Wesentlichen. Indem wir uns ausprobieren, können wir bislang verborgene Talente ans Licht bringen. Durch das Feedback anderer gewinnen wir Erkenntnisse über uns selbst und können unsere privaten und öffentlichen Handlungsspielräume bewusster wahrnehmen und gezielt verändern.
Anders ausgedrückt, kann man sagen:
Was uns bewusst ist, steuern wir, was unbewusst ist, steuert uns.
Wer nimmt da nicht gerne das Steuerrad selber in die Hand?
Im Coaching erlebe ich insbesondere Aha-Momenten, wenn ich mit meinen Klienten ein Vorstellungsgespräch fingiere und auswerte. Seit Einführung des Allgemeinen Gleichbehandlungs-Gesetzes (AGG) hat es sich etabliert, dass Unternehmen so gut wie keine Rückmeldung mehr erteilen über die Beweggründe für eine Ablehnung. Dies hat zur Folge, dass man sich auf sein eigenes Einschätzungsvermögen verlassen muss, was in Ermangelung einer Außenperspektive immer nur eine sehr begrenzte Sichtweise zulässt, wie das Johari-Fenster gut veranschaulicht.
Während die Tendenz besteht, im Vorstellungsgespräch den Fokus auf das gesprochene Wort zu legen, gerät dabei häufig außer Acht, dass unser Gegenüber noch sehr viel mehr an uns wahrnehmen kann: Gestik, Mimik, Intonation, wie betreten und verlassen wir den Raum, Veränderung der Körperhaltung in bestimmten Gesprächssituationen, z.B. wenn es uns unangenehm wird, Blickkontakt, Ausstrahlen von Ruhe, Nervosität und vieles mehr.
Anregungen zur Selbstreflexion
Wenn Sie sich selber mehr mit dem Thema Selbst- und Fremdwahrnehmung beschäftigen möchten, können folgende Fragen ein guter Einstieg sein:
1. Was möchten Sie vor anderen verbergen?
2. Was hat Sie als Feedback von anderen überrascht, war Ihnen also zuvor nicht klar?
3. Wann haben Sie sich schon einmal selbst überrascht, weil Sie eine Eigenschaft oder Fähigkeit an den Tag gelegt haben, die Ihnen neu war?
4. Worüber können Sie frei und frisch reden, was zeigen Sie gerne von sich?
Ich wünsche Ihnen einen erkenntnisreichen und schönen November!
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